Hildegard von Bingen
Die Werke der Universalgelehrten
Der heiligen Hildegard von Bingen verdanken wir viele verschiedene Werke, die sie Zeit ihres Lebens geschaffen hat. Erfahren Sie hier mehr über Hildegards Schaffen.
Mystik
Hildegards Visionen
Der Überlieferung nach begann Hildegards visionäre Begabung bereits im Alter von drei Jahren, als sie ein überaus helles Licht sah. Seit diesem Erlebnis wurde sie regelmäßig Zeugin von Schauungen, die sich mitten im Alltag ohne den Verlust des Wachbewusstseins ereignen konnten.
Über den Inhalt ihrer Visionen sprach Hildegard als Kind recht unbefangen, denn sie dachte zunächst, dass alle Menschen an ihren Erlebnissen Anteil nahmen. Als sie gewahr wurde, dass nur sie diese Gabe hatte, wurde sie vorsichtiger. Die Entscheidung der Eltern, das Mädchen in die Obhut eines Klosters zu geben, resultierte auch von ebendieser visionären Begabung her.
Jutta von Spanheim, ihre Mentorin im Kloster, sorgte dafür, dass sie einen geeigneten Lehrer bekam, den Disibodenberger Mönch Volmar. Dieser begleitete sie fortan während ihrer Ausbildung und ermutigte sie später, ihre Visionen zu verschriftlichen.
Ihr erstes Visionswerk, welches sie aufschrieb war das »Liber Scivias«, dem eine Reihe weiterer Schriften folgten. Hildegard empfand die Niederschrift als einen göttlichen Auftrag und wurde krank, als sie sich anfangs weigerte, diesem Auftrag nachzukommen.
Art und Weise ihrer Schauungen
Hildegard wurde von einem strahlenden Licht wie ein Blitz getroffen und vernahm dabei eine innere Stimme, die folgendes sagte: »Schreibe auf, was du siehst, und sage, was du hörst!«. Hildegard beschreibt die Visionen weiter als ein Emporsteigen ihres Geistes zu Gott, wobei der göttliche Impuls wie blitzendes und feuriges Licht ist, welches aus dem offenen Himmel herabkommt.
Visionen: »Was ich schreibe, das schaue und höre ich in der Vision und setze keine anderen Worte als die, die ich höre.«
Art der Schauungen: »Die Gesichte aber, die ich sah, empfing ich nicht im Traum, nicht im Schlaf oder in Geistesverwirrung, nicht durch die leiblichen Augen oder die äußeren menschlichen Ohren, auch nicht an abgelegenen Orten, sondern ich erhielt sie in wachem Zustand, bei klarem Verstand, durch die Augen und Ohren des inneren Menschen, an zugänglichen Orten, wie Gott es wollte« (aus der Einleitung des »Liber Scivias« (= Wisse die Wege).
Mittelpunkt ihrer Visionen: Gott steht als eine gewaltige, ruhende Erscheinung, welche die Gestalt des Kosmos annimmt, um auf diese Weise das Universum als Schöpfung darzustellen. Vor ihm erscheinen folgende Bilder:
- die Gestirne Sonne und Mond in einer Lichtwolke
- die Schar der Seligen in einer Sturmwolke, welche auf ihre ewige Heimat warten
- der Chor der Feuergeister in einer Feuerwolke, der dem lasterhaften Trubel der Welt die himmlische Antwort gibt
- Geheimnisse: »Gott kann nicht direkt geschaut werden. Er wird vielmehr durch die Schöpfung erkannt. Wo aber im Menschen die Frage nicht ist, da ist auch keine Antwort des heiligen Geistes.«
- Kernsatz: »Liebe erschuf die Welt – die Liebe hat sie geheilt.«
- Erleuchtung: »Das Licht, das ich schaue, ist nicht an den Raum gebunden. Es ist viel lichter als eine Wolke, die die Sonne in sich trägt. … Solange ich es schaue, wird alle Traurigkeit und alle Angst von mir genommen.«
- Ein Motto: »Erkenne die Verflechtungen des Schöpfers mit seiner Schöpfung, begreife die Einheit der kosmischen Geheimnisse, die Kraft der Kirche und der Sakramente.«
Schriften
Die heilige Hildegard hat der Nachwelt ein umfangreiches Schaffenswerk hinterlassen. Ihre Schriften im Überblick.
1. Buch: »Liber Scivias Domini«
(»Wisse die Wege Gottes«), entstanden im Zeitraum von 1141 bis 1151: Dieses Buch erschließt den Sinn des Alten und Neuen Testaments sowie das Entstehen und Wachstum der Kirche. Das Werk gliedert sich in folgende drei Teile:
- Teil 1: Das Mysterium der Dreieinigkeit Gottes
- Teil 2: Das Geheimnis des Bösen
- Teil 3: Das Wesen der Menschen
2. Buch: »Liber Vitae meritorum«
(Buch der »Lebensvergeltung« bzw. der Mensch in der Verantwortung), entstanden in den Jahren 1158 bis 1163; Hildegard beschreibt hierin ein Wechselgespräch, das die 35 Tugenden mit den 35 Lastern führen:
- Amor saculi (Weltliebe) ↔ Amor coelestis (himmlische Liebe)
- Petulantia (Ausgelassenheit) ↔ Disciplina (Disziplin)
- Ioculatix (Vergnügungssucht) ↔ Verecundia (Zurückhaltung)
- Obduratio (verhärtetes Herz) ↔ Misercodia (Barmherzigkeit)
- Iguavia (Feigheit) ↔ Divina Victoria (Sieg Gottes)
- Ira (Zorn) ↔ Patientia (Geduld)
- Inepta laetitiae (Ausschweifung) ↔ Gemitus ad deum (Sehnsucht nach Gott)
- Ingluvies ventri (Schlemmerei) ↔ Abstinentia (Enthaltsamkeit)
- Acerbitas (Engherzigkeit) ↔ Vera Largitas (Freigebigkeit)
- Impietas (Gottlosigkeit) ↔ Pietas (Frömmigkeit)
- Fallacitas (Lüge) ↔ Veritas (Wahrheit)
- Contentio (Streit) ↔ Pax (Friede)
- Infelicitas (Schwermut) ↔ Beatitudo (Seligkeit)
- Immoderatio (Maßlosigkeit) ↔ Disiretio (Maß)
- Periditio animarum (Verstocktheit) ↔ Salvatio animarum (Seelenheil)
- Superbia (Hochmut) ↔ Humilitas (Demut)
- Invidia (Neid) ↔ Caritas (Liebe)
- Inanis Gloria (Ruhmessucht) ↔ Timor Domini (Gottesfurcht)
- Inoboedientia (Ungehorsam) ↔ Oboedientia (Gehorsam)
- Infidelitas (Unglaube, Untreue) ↔ Fides (Glaube, Treue)
- Desperatio (Verzweiflung) ↔ Spes (Hoffnung)
- Luxuria (Wollust) ↔ Castitas (Keuchheit)
- Iniustitia (Ungerechtigkeit) ↔ Iustitia (Gerechtigkeit)
- Torpor (Stumpfsinn) ↔ Fortidudo (Tapferkeit)
- Oblivio (Gottvergessenheit) ↔ Sanctitas (Heiligkeit)
- Inconstantia (Unbeständigkeit) ↔ Constantia (Beständigkeit)
- Cura terrenorum (Sorge um das Irdische) ↔ Caeleste desiderium (Sehnsucht nach dem Himmlischem)
- Obstinatio (Verschlossenheit) ↔ Compunctio cordis (Zerknirschung)
- Cupiditas (Habsucht) ↔ Contemptus mundi (Weltverachtung)
- Discordia (Zwietracht) ↔ Concordia (Eintracht)
- Scurrilitas (Spottsucht) ↔ Reverentias (Ehrfurcht)
- Vagatio (Umherschweifen) ↔ Stabilitas (Stetigkeit)
- Maleficium (üble Tat) ↔ Cultus Dei (Gottes Dienst)
- Avaritia (Geiz) ↔ Sufficientia (Genügsamkeit)
- Tristitia saeculi (Weltschmerz) ↔ Coeleste gaudium (Himmlische Freude)
3. Buch: »Liber divinorum operum«
(Buch der »Gotteswerke«), entstanden von 1163 bis 1173; dieses Buch stellt den Entwurf einer eigenen Kosmologie dar - der Kosmos in Bezug zu Gott: Das Werk beschreibt die Schöpfungsordnung nach der mittelalterlichen Vorstellung von Mikrokosmos ↔ Makrokosmos als etwas, in dem die Dualismen von Leib und Seele, Welt und Kirche sowie von Natur und Gnade in die Verantwortlichkeit des Menschen gegeben sind.
4. Naturwissenschaftliche Bücher: Die Werke
- »Physica« (Buch der »Naturkunde«) und
- »Causae et Curae« (»Buch der Ursachen und der Behandlung von Krankheiten«),
entstanden in der Zeit von 1151 bis 1158. Die »Physica« behandelt die einfache Medizin, wohingegen »Causae et Curae« als erste deutsche Naturheilkunde bezeichnet werden kann. Letztere enthält Abhandlungen über die Heilkraft von Pflanzen, Bäumen, Wurzeln, Edelsteinen, Metallen und Tieren.
Weitere naturkundliche Werke, die sie über Jahrzehnte bis zu ihrem Tod geschrieben hat, waren die Bücher »Liber simplicis medicinae« und »Liber compositae medicinae«. In diesen Schriften hat Hildegard 280 Pflanzen und Bäume katalogisiert und nach ihrem Nutzen für Kranke aufgelistet. Ebenfalls erwähnenswert ist das »Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum«, (»Buch über das innere Wesen der verschiedenen Kreaturen und Pflanzen«), was ihr den Namen als erste deutsche Ärztin einbrachte.
Neben diesen vier Hauptwerken hat Hildegard einen regen Briefwechsel mit sämtlichen Päpsten ihrer Zeit sowie zu fast allen europäischen Kaisern und Königen hinterlassen.
Darüber hinaus sind eine Sammlung von Kompositionen (»Symphonia armonie celestium revelationum«), die 77 liturgische Gesänge enthält sowie ein Singspiel (»Ordo virtutum«) überliefert. In letzterem außergewöhnlichen Mysterienspiel erweckt Hildegard die allegorischen Figuren ihres visionären Buches »Liber Scivias Domini« zum Leben.
Außerdem verfasste Hildegard im Jahr 1175 eine Biographie, welche übrigens das einzige Buch ist, das sie nicht visionär empfangen hat.
Musik
Hildegard hat als einzige Frau des deutschen Mittelalters ein umfangreiches und in sich geschlossenes Musikwerk geschaffen, in dem sie kühn eigene Wege beschreitet. Sie umgreift darin ein für die damalige Zeit im Umbruch befindliches »modernes« Tonalitätsempfinden – Dur und Moll – und schafft damit etwas Neues. »Weisen eines neuen Liedes« nennt ein berühmter Zeitgenosse, Odo von Paris, diese Melodien.
Hildegards lebendige Beziehung zum Klang spricht aus all ihren Schriften. Klingender Jubel durchzieht vor allem die 13. Schau des 3. Buches ihres Scivias. Von großartiger Dynamik ist sie ganz von Licht und Klang durchtont. Aus diesem Licht hört sie auf wundersame Weise mannigfaltige Klänge, die in »harmonischer Einheit – in harmonia symphonizans« das Lob der Heiligen kündet.
Die »symphonia« gehört zu ihren Lieblingsworten. Hildegard bezeichnet ihre Gesänge als »Symphonie der Harmonie himmlischer 0ffenbarung – symphonia harmoniae caelestium revelationum«. Auch die »Seele des Menschen ist symphonisch – symphonialis est anima«. Dieses Wort, das die Grundverfasstheit des Menschen zum Lobe Gottes aussagen will, findet man an vielen Stellen ihrer Gesänge.
In ihrer Symbolik der Instrumente, die im Mittelalter nicht neu war, wählte Hildegard eine eigene und oft ungewohnte Deutung. Tonendes Symbol finden wir auch, wenn sie von der Vollendung des Kosmos, der Engel und des Menschen spricht (vgl. Antiphon Cum processit, Liederband [= LB] No. 8).
In ihrem berühmten Brief an die Mainzer Prälaten zeigt Hildegard Wesen und Bedeutung der Musik auf. Aus großer innerer Not stammen ihre Ausführungen über das Gotteslob, den Gesang und die Ausdrucksmöglichkeit der Instrumente. Denn über ihr Kloster war 1178 das Interdikt verhängt worden, weil Hildegard einen Edelmann auf ihrem Klosterfriedhof beisetzen ließ, der ohne öffentliche Aussöhnung mit der kirchlichen Behörde gestorben war.
Einige Monate vor ihrem Tode, im Alter von 81 Jahren, nahm die greise Äbtissin das Verbot auf sich, dass in ihrer Kirche das öffentliche Gotteslob unterbleiben musste. Sie kämpfte in diesem Brief um ihr Recht und fügt dann ihre Ausführungen über das Gotteslob und die Musik an (siehe: Hildegard von Bingen, Briefwechsel S. 235–241).
Hildegards Zeitgenossen hatten ein Gespür für die Leuchtkraft der rheinischen Seherin. Eines der frühesten Zeugnisse stammt von dem bereits erwähnten Magister der Theologie Odo von Paris, der schreibt: »Man sagt, dass du, erhoben in den Himmel, vieles siehst und Weisen eines neuen Liedes hervorbringst, obwohl du es nicht erlernt hast.« Dieses tönende Werk, geschaffen von einer fast ständig kranken Frau, umfasst 77 Gesänge: Antiphonen, Responsorien, Hymnen, Sequenzen und das geistliche Singspiel »Ordo Virtutum – Spiel der Kräfte«.
In zwei größeren Handschriften sind die Gesänge als kostbares Erbe überliefert. Die ältere zeitgenössische ist vor 1175 in der Rupertsberger Schreibstube entstanden und befindet sich heute in der Abteibibliothek zu Dendermonde in Belgien. Die zweite umfangreiche Handschrift, der sogenannte Riesenkodex, Handschrift 2 der Hessischen Landesbibliothek zu Wiesbaden, entstand zwischen 1180–1190 ebenfalls in Hildegards Schreibstube.
Allgemein ist aus der Gestaltung der Gesänge die intensive Bezogenheit Hildegards zur Liturgie erkennbar. Von dort erhielt sie wesentliche Anregungen für ihre Gesänge, die auch in der Liturgie vorgetragen wurden, wie die Quellen berichten.
Gewiss wurde der Ordo Virtutum auf dem Rupertsberg gesungen, denn die Meisterin wollte damit ihre Mitschwestern erfreuen und anregen. Er setzt sich aus 85 Antiphonen zusammen, die meist schlichter gehalten sind als die übrigen Gesänge. Sein Grundgedanke ist das Stehen der Menschheit, der Kirche, des einzelnen Menschen im Entscheidungskampf zwischen Gut und Böse bis zur Endzeit.
Von umfassender Thematik ist Hildegards theologische Aussage in ihren Liedtexten. Gott und Welt, Schöpfung und Erlösung, Maria, die Engel und die Heiligen, vor allem aber das Mysterium der Menschwerdung sind einbezogen in die Dynamik ihrer dichterisch-musikalischen Schau.
Ein Blick in die erwähnten Handschriften zeigt, dass die feingeschwungene Choralnotation der Hildegard-Gesänge von der für das 12./13. Jahrhundert charakteristischen Form geprägt ist. Eine rhythmische Differenzierung ist nicht vorhanden.
Das Notenbild der Handschriften gleicht zwar ganz der gregorianischen Schreibweise, dennoch handelt es sich hier nicht um gregorianische Neuschöpfungen. Gregorianisierend ist diese Tonsprache, die den Musiker des 12. Jahrhunderts erkennen lässt, in dem neben dem römischen Choral auch die Volksmusik gepflegt wurde. Beides nimmt Hildegard als konstituierende Elemente in das Gestaltungsprinzip ihrer Musik auf.
Hildegard geht in ihrer Melodiegestaltung eigene Wege. Schon die Frage nach der Tonalität der Gesänge ist nicht immer eindeutig zu beantworten. Grundton und Oberquint spielen bei ihr eine beherrschende Rolle, so dass man von Tonika und Dominante sprechen kann, um damit ein Klanggefühl anzudeuten, das vom modalen in den tonalen Bereich übergeht.
In ihrem weitläufigen Tonumfang überschreitet Hildegard zumeist die der Gregorianik zugewiesenen Grenzen. Ein primäres Element ihrer Melodiegestaltung ist die Vorliebe für große Intervalle. Sie geben ihrer Musik oft eine herbe und ungestüme Kraft. Diesem ungewöhnlichen Tonumfang entspricht in vielen Gesängen eine starke Melismenfreudigkeit. Hildegard kennt keine strenge Motiv-Verarbeitung oder -Gliederung.
Ihre Melodien setzen sich zumeist aus kleinen Phrasen und Formeln zusammen. Dennoch ist bei ihr eine hochentwickelte Kunst der Variation festzustellen. Auch in der formalen Anlage der Kompositionen (Antiphonen, Responsorien usw.) fehlen weithin die Charakteristika der Gregorianik.
Unter den Antiphonen sind kurze mit bescheidenem Tonumfang anzutreffen, aber auch längere, die in ihrer reichen Melismatik die responsoriale Form annehmen. Den Responsorien ist ebenfalls eine große Mannigfaltigkeit in Bezug auf Tonumfang und Melismatik eigen.
In ihren Sequenzen verlässt Hildegard die symmetrische Anlage. Außer der typischen Folge von Versikelpaaren finden sich hier weder Anklänge an ältere noch an zeitgenössische Sequenzen.
Drei Gesänge tragen die Bezeichnung Hymnus. Mit dem gregorianischen Hymnus können sie jedoch nicht verglichen werden, vielmehr deuten sie auf Hildegards Sequenzenform hin. Formal sind sie die freiesten Gesänge.
Die Frage, ob Hildegard bewusst tonmalerische Effekte einbringen wollte, lässt sich kaum eindeutig beantworten. Nur mit großer Zurückhaltung wird man nachträglich Melismen und große Intervalle als Textinterpretationen deuten können.
Auch über mögliche zeitgenössische Vorbilder, die Hildegard zu ihren Kompositionen veranlasst haben könnten, lässt sich nichts Endgültiges sagen, da es an dem dazu erforderlichen Vergleichsmaterial der Spätgregorianik fehlt.
Wenn die Meisterin vom Rupertsberg sich in all ihren Schriften formal und inhaltlich als eigenständig-schöpferisch erweist, da sie ihre Aussagen aus der Schau des »lebendigen Lichtes« gewinnt, so darf man dies auch von ihren Gesängen annehmen. Das Feststellen von Besonderheiten und Eigentümlichkeiten dieser Musik kommt mehr einem rein äußerlichen Ertasten gleich, das nur materielle Beschaffenheit aufzeigen kann. Zum eigentlichen Erlebnis wird erst das gesungene Lied selbst, dem der Versuch auf dieser CD dienen möchte.
So einmalig dieses Musikwerk dasteht, so sieht Hildegard es dennoch nicht als ihr eigenes Werk an, denn sie ist »ständig mit zitternder Furcht erfüllt, ohne Sicherheit des Könnens«. Gott selbst muss erst ein »kleines Zelt« (Hildegard) »berühren, damit es Wunderbares schaue und in vielfältiger Weise besinge«. Unmittelbar erfährt sie sich als Licht und Klang, als Instrument Gottes. Ja, sie ist die »Posaune, die den Ton zwar erklingen lässt, ihn aber nicht selbst hervorbringt. Ein anderer bläst hinein, damit sie töne«. (Maria-Immuculata Ritscher OSB)
Musikalische Hörbeispiele aus den Kompositionen der heiligen Hildegard
O pastor animarum
De Sancta Maria - Ave Maria, Responsorium
De Spiritu Sancto
Gebete der heiligen Hildegard von Bingen
- Hymnus zu Ehren des Heiligen Geistes
- Der dreifaltige Gott
- Gott, liebender Helfer zum Guten
- Lob der Schöpfung
- Sehnsucht nach dem Himmel
- Himmlisches Glück
- Dreifaltiges Leben
- Lob der Weisheit
- Genügsamkeit
- Gottsuche
- Belebender Geist
- Gebet
Feuergeist! Preis Dir!
Du wirkest auf Pauken und Harfen.
Der Menschen Geist entbrennt von Dir, der Menschen Gezelte tragen ihre Kräfte.
Davon steigt der Wille empor und verleiht der Seele Geschmack;
ihre Leuchte ist das Sehnen.
Mit süßem Tone ruft Dich der Geist an und bereitet Dir gar vernünftig eine Stätte, die er in goldenen Werken mühevoll aufbaut.
Du aber führst immer ein Schwert, das abzuschneiden, was der schadenbringende Apfel in schwarzem Morde hervorbringt.
Wenn der Nebel den Willen und die Strebungen bedeckt, in denen die Seele fliegt und sich allum bewegt.
Aber der Geist ist die Bindung des Willens und des Sehnens.
Reckt sich aber der Geist also empor, daß er des Bösen Pupille zu sehen sucht und zum Kinnbacken des Bösen hinstrebt, dann verbrennst du - wenn Du nur willst - ihn schnell im Feuer. Neigt sich die Vernunft durch üble Werke zum Bösen, dann zerpresst und zerreibst Du sie, wenn es Dir beliebt, und führst sie durch Ergießung von Erlebnissen zurück. Zieht jedoch das Böse sein Schwert wider Dich, dann wendest Du es gegen dessen Herz zurück, wie Du beim ersten gefallenen Engel getan, wo Du den Turm seines Stolzes in die Tiefe hinabschmetterst. Aufgerichtet hast Du einen anderen Turm unter den Zöllnern und öffentlichen Sündern, die Dir ihre Sünden und Werke bekennen.
Darum preist Dich jegliche Kreatur, die von Dir lebt, weil Du die köstlichste Salbe bist für alle Brüche und eiternden Wunden, die Du in die kostbarsten Perlen verwandelst. Und nun würdige Dich, uns alle bei Dir zu versammeln und auf den rechten Weg zu führen.
Amen.
Wie drei Bestandteile im Wort zu erkennen sind,
so ist die Dreifaltigkeit in einer Gottheit zu betrachten.
Im Wort ist Klang, Kraft und Hauch.
Klang, damit man es hört,
Kraft, damit man es versteht und
Hauch, damit es ans Ziel gelangt.
Im Klang aber nimm den Vater wahr, der alles
in unermeßlicher Stärke offenbart.
In der Kraft den Sohn, der wunderbar
aus dem Vater gezeugt ist.
Im Hauch aber den Heiligen Geist,
der lieblich in ihnen erglüht.
Wo man aber keinen Klang hört, dort wirkt
auch keine Kraft, noch erhebt sich ein Hauch,
und deshalb versteht man dort auch das Wort nicht.
Mein Gott, du hast mich geschaffen,
ich lebe durch dich und trachte nach dir,
wenn ich mit Seufzen das Gute erflehe.
Ich kenne dich ja als meinen Gott
und weiß nur, daß ich dir dienen darf,
denn du hast mir Einsicht gegeben.
O du mein Helfer bei allem Guten,
durch dich vollbringe ich gute Werke.
Auf dich will ich all meine Hoffnung werfen
und mich bekleiden mit deiner Huld.
O wahrer Gott, welch große Geheimnisse
hast du in deinen Geschöpfen gestaltet und
dem Menschen, deinem großen Kunstwerk, untergeordnet.
Du hast die Kräfte deiner Allmacht schöpferisch entsandt;
du hast das herrliche Dach mit seinen Fenstern,
das Firmament mit seinen Leuchten, geschaffen.
An ihm hast du die Sonne festgemacht,
die mit ihrem Licht alles über der Erde
und unter der Erde erleuchtet.
Ihr sind die übrigen Leuchten verbunden,
und wie diese durch die Sonne leuchten,
so gehorchen dir alle Geschöpfe.
In dir und durch dich leben sie alle.
Durch deine Liebe ist alles geschaffen;
denn du, ewiger Gott, bist die wahre Liebe.
O heilsamer Weg,
der kraftvoll sich Bahn bricht!
Alles durchdringst Du:
die Höhen, die Tiefen, den Abgrund-
Du fügest und bindest alles in eins!
Durch Dich wogen die Wolken, wehen auf die Lüfte -
die Steine träufeln vom Saft,
Quellen sprudeln hervor,
durch dich quillt aus Erden das erfrischende Grün.
Darum sei Lob Dir, Du Klang allen Lobens,
Du Freude des Lebens
voll Hoffnung und Kraft,
voll des Rühmens,
da Du uns schenkest die Gaben des Lichts!
Im Himmel ist meine Heimat,
dort begegne ich auch den Geschöpfen;
Gottes Liebe ist mein Verlangen,
den Turm der Sehnsucht will ich errichten.
Was du, Gott, willst, das will ich tun.
Mit den Flügeln des guten Willens
fliege ich über des Himmels Gestirne,
um deinen Willen zu tun.
Nichts mehr bleibt mir zu suchen und zu wünschen,
ich sehne mich nur noch nach Dir.
Laß mich, o Gott, dein Saitenspiel sein
und der Zitherklang deiner Liebe.
Wenn ich mit offenen Augen betrachte,
was du, mein Gott, geschaffen hast,
besitze ich hier schon den Himmel.
Ruhig sammle ich im Schoß
Rosen und Lilien und alles Grün,
während ich deine Werke preise.
Lob dir, Dreifaltigkeit,
Klang und Leben bist du.
Dich loben die Scharen der Engel,
du wunderbarer, geheimnisvoller Glanz;
verborgen den Menschen,
bist du in allem das Leben.
O Kraft der Weisheit,
du zogst deine Bahn
umfingst das All
auf dem einzigen Weg,
der zum Leben führt.
Drei Kräfte hast du, Flügeln gleich:
Zur Höhe empor schwingt sich kraftvoll der eine,
von der Erde her müht sich der zweite,
und allüberall schwingt der dritte.
Lob sei dir, Weisheit,
würdig bist du allen Lobes!
Über den Sternen throne ich,
weil mir deine Gaben genügen.
Ich freue mich am süßen Ton der Pauken,
da ich auf dich vertraue.
Ich küsse die Sonne, umarme den Mond
und halte ihn fest; mir genügt,
was sie für mich ersprießen lassen.
Was wollte ich mehr noch wünschen,
dessen ich gar nicht bedarf?
Alles erweist mir Barmherzigkeit.
Im Haus meines Königs darf ich wohnen,
sitzen beim königlichen Mahl,
weil ich eine Königstochter bin. (LVM V,13)
Zu dir, meinem Vater, will ich zurückkehren.
Ich werde mich nicht beeinflussen lassen
von meinem verkehrten Eigenwillen.
Glauben will ich an dich, meinen Herrn,
den Einen in drei Personen, dich verherrlichen und verehren
und mein Vertrauen dir schenken.
In Ewigkeit trage ich deinen Namen im Herzen.
Heiliger Geist, du belebendes Leben,
Dynamik des Alls und Wurzel der Schöpfung.
Reinige deine Schöpfung vom Schmutz,
tilge die Schuld und salbe die Wunden.
O strahlendes Leben, des Lobes wert,
erwecke und wiedererwecke das All! (Lied Nr. 15)
Wenn ich mit offenen Augen betrachte,
was du, mein Gott, geschaffen hast,
besitze ich hier schon den Himmel.
Ruhig sammele ich im Schoß Rosen und Lilien und alles Grün,
während ich deine Werke preise.
Lehre mich Gott, im Heiligen Geist,
deine Wege zu gehen,
zu empfangen die Speise des Lebens,
die du den Gläubigen reichst
zur Erwählung und Heiligung.
In die höchste Glückseligkeit
nimm mich dann gütig auf,
lass mich ruhen in deinem Schoß.
Weitere Gebete finden Sie unter anderem in folgenden Büchern:
- Hönmann, Maria-Assumpta: Umarmt vom lebendigen Licht, prophetische Worte und Gebete Hildegards von Bingen; Freiburg im Breisgau 1993.
- Storch, Wolfgang (Hg.): Gebete der hl. Hildegard von Bingen; Kevelaer 2012.
Quellen
Art und Weise ihrer Schauungen:
- Seewald, Peter: Kult; München 2007, 73.
Musik:
Gebete:
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